Vor einigen Tagen feierte Tel Aviv mit der Eröffnung des kunstvoll restaurierten Liebling-Hauses den 100. Geburtshaus der Bauhaus-Schule. Das vom Architekten Dov Karmi entworfene Gebäude wurde 1936 errichtet und gilt mit seinen langen, in der Fassade eingelassenen Balkonen, die vor der brennenden Sonne schützen, als Paradebeispiel der Bauhaus-Architektur im Zentrum der „Weißen Stadt“.
Spätestens mit der Erhebung zum UNESCO Weltkulturerbe 2003 wurde Tel Aviv quasi zum weltweit größten lebenden Freilichtmuseum für Bauhaus-Architektur erhoben, jetzt wurde das Liebling-Haus in einem gemeinsamen israelisch-deutschen Projekt als offizielles Bauhaus-Museum eingerichtet.
Doch halt — „Es ist falsch, dazu Bauhaus zu sagen!“ protestiert Isaac Dror, der für die Independence Hall Israel offizielle Guides für die Stadt Tel Aviv ausbildet, „wir verwenden den Begriff International Style“. Denn viele, ja die meisten der Architekten, die seit den 30er Jahren in der funktionalen, schnörkellosen Tradition des Bauhauses das moderne Tel Aviv errichteten, waren keine Schüler des Bauhauses, hatten das Labor der modernen Architektur nicht einmal von innen gesehen. Auch das Liebling-Haus spricht in seinen Broschüren von „International Style“ und setzt (Bauhaus) nur in Klammer dazu.

Bei den Stadtplanern und Politikern Tel Avivs fiel die egalitäre Funktionalität der Bauhaus-Ideologie in den 30er Jahre auf fruchtbaren Boden. „Es passte zum sozialistischen, egalitären Konzept dieser neu gegründeten Stadt, als der internationale Stil dem City Council präsentiert wurde. Es war eine politische Entscheidung, Tel Aviv in diesem Stil weiter zu entwickeln“, erzählt Dror. So wie Bauhaus wesentlich dazu beitragen sollte, den dringenden Wohnbedarf Deutschlands nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg zu lösen, brauchte auch Tel Aviv in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Wohnraum für die enorme Zahl der Migranten, die hier eine neue Existenz in Frieden aufbauen wollten.
Ein Faktor dabei, mit dem sich auch die Eröffnungsausstellung im Liebling-Haus auseinandersetzt, war der „Transferumbau“, eine überaus umstrittene Episode in der Geschichte des Zionismus. 1933 wurde eine politische Vereinbarung zu wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Nazi-Deutschland und der zionistischen Bewegung abgeschlossen — im gleichen Jahr, in dem das Bauhaus in Berlin von den Nazis aufgelöst wurde und viele deutsche Juden nach Palästina auswanderten und in Tel Aviv ein neues Leben begannen. Das Transferabkommen sollte möglichst vielen die Migration ermöglichen. Erkauft wurde die Freiheit mit Millionenwerten an deutschen Baustoffen, die zur Errichtung von Wohnraum in Tel Aviv verwendet wurden. Die Ausstellung beschäftigt sich mit der politischen Seite dieses Abkommens ebenso wie den Materialien, auf denen die White City aufgebaut wurde.

Ausgiebig Feiern können die Bewohner Tel Avivs auf jeden Fall: Die Eröffnung des Liebling-Hauses wurde mit einer laut dröhnenden Open Air Party am Bialik Platz begangen, zu dem die halbe Stadt zusammenströmen zu schien. Was in hiesigen Kulturinstitutionen nur schwer vorstellbar ist war das Geschiebe von abertausenden Menschen im Liebling-Haus selbst, die alle Stockwerke bis ins kleinste Zimmer hinein inspizierten, ohne Scheu dass irgend eines der Exponate oder der Installationen dabei zu Schaden kommen könnte. Auf der Straße wurde getanzt was die Techno-Disco hielt, mit Kunstprojekten von Kind bis Oma im „Bauhaus-Stil“ inszeniert.
Darin spiegelt sich die Energie, die in dieser jungen Stadt fast überall zu spüren ist. Tel Aviv ist ein zentraler Hotspot der internationalen Startup-Szene, die zeitgleich mit dem Bauhaus-Jubiläum das DLD Innovation Festival veranstaltete. Die jährliche DLD Tel Aviv ist ein Treffen tausender Jungunternehmer, Investoren und Delegationen aus über 100 Ländern und ging aus der 2005 in München gegründeten DLD Konferenz hervor. Gegründet wurde sie von Steffi Czerny, die den Verleger Hubert Burda von der Idee eines digitalen Ökosystems überzeugen konnte. Gemeinsam mit Yossi Vardi, einem legendären israelischen Digitalinvestor und Entwickler von ICQ, eine Art Ur-WhatsApp des frühen Internets, machte sie daraus eine internationale Plattform digitaler Kreativität. Auf dem Festivalgelände von HaTachana, dem historischen Bahnhofsgelände der Bahn von Tel Aviv nach Jerusalem, findet sie immer im September ihren analogen Niederschlag.

Zur Startup-Mentalität Tel Avivs trägt auch wesentlich die eigene Geschichte als städtisches Startup bei. 1909 gründete 66 Familien aus Jaffa, der Jahrtausende alten Hafenstadt die heute ein Stadtteil von Tel-Aviv-Jaffa ist, eine Siedlung, aus der die Stadt mit inzwischen fast einer halben Millionen Einwohner hervorging. Es bedurfte schon besonderer Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass aus der Siedlung mitten in der Wüste eine blühende Stadt wachsen würde, die weiterhin enormen Zuzug hat. Das erste Gebäude, das hier errichtet wurde, zeigt den Weitblick der Gründer: Es war eine Schule. Heute steht an ihrer Stelle ein Hochhaus im Stil des oft kritisierten Brutalismus.
Die Altersschichten dieser Stadtentwicklung lassen sich an den historischen Architekturstilen ablesen, die in den diversen Vierteln Tel Avivs zu finden sind, von arabischem Ursprung, amerikanischen Templer-Stil, der jüdischen Neve Tzedek Siedlung, und dem eklektischem Stil der frühen 20er Jahre bis hin zum Bauhaus — pardon, dem International Style. So gut wie alle historischen Häuser stehen heute unter Denkmalschutz. Vieles erstrahlt im Glanz von Restaurierungen der letzten Jahre, aber noch immer warten große Teile der arg hergenommenen Substanz darauf, wieder ihre Schönheit zeigen zu können.
Fotos: Tel Aviv, the iPhone Edition
Die Stadtverwaltung hat einen originellen Weg gefunden, Finanzmittel für diese Herkulesaufgabe aufzutreiben: Private Investoren dürfen ein bis zwei Stockwerke für Penthäuser aufsetzen, vorausgesetzt sie werden stilsicher gestaltet und die darunter liegende Mieterstruktur — Wohnungen wie Geschäfte oder Betriebe — bleibt zu gleichen Mieten erhalten. Die Rechnung geht auf: Während die sich optisch dank der Modernität des ursprünglichen Baus gut eingliedernden Aufstockungen zu schwindelerregenden Preise bis zu 50 Millionen Dollar verkauft werden, bleibt die soziale Struktur der Stadt so gemischt wie zuvor.
Entlang des Rothschild-Boulevards, der seinen Anfang dort nimmt, wo sich 1909 die ersten Siedler niederließen, wandert man quer durch diese architektonischen und sozialen Schichten bis weit in die White City des International Style hinein. Abends verwandelt sich der Boulevard mit seiner Allee als Mittelstreifen in Rock’n’roll, wo die junge Szene auf E-Scootern, E-Bikes, Fahrrädern und Scateboards bei Streetfood, mitgebrachter Musik und Kunstinstallationen zusammentrifft. Wenn sie nicht gerade mit Events wie dem DLD Innovation Festival, der Eröffnungsparty des Liebling-Hauses oder Strandpartys entlang des 14 Kilometer langen Sandstrands der Mittelmeerstadt bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt sind. Was keinen davon abhält am nächsten Morgen seiner Startup-Idee nachzujagen, die vielleicht schon übermorgen unsere Welt verändert.
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