Personalisierte Medizin wird seit mehreren Jahren als große Entwicklung vorausgesagt, jetzt wurde vor wenigen Tagen die (wahrscheinlich) erste Behandlung bekannt, bei der ein Medikament nur für eine Person gezielt entwickelt wurde.
Die achtjährige Mila leidet am Batten-Syndrom, einer sehr seltenen degenerativen neurologischen Erkrankung: Innerhalb kurzer Zeit hatte das aktive, fröhliche Kind ihre Fähigkeit zu sehen, zu sprechen und ohne Hilfe zu gehen fast vollständig verloren. Bisher gibt es keine Behandlung für diese Erkrankung, die in wenigen Jahren zum Tod.
Bis Ärzte in Boston in einer dramatischen, acht Monate dauernden Behandlung eine nur auf Mila zugeschnittene Behandlung entwickelten, wie aus dem Bericht im New England Journal of Medicine hervorgeht. Die Ärzte des Boston Children’s Hospital konnten die genetische Ursache von Milas Erkrankung bestimmen und in Zusammenarbeit mit mehreren Labors und pharmazeutischen Firmen „Milasen“ entwickeln, ein Medikament, das Mila in mithilfe von Rückenmarksinjektionen verabreicht wird.
Ein Jahr nach Beginn der Behandlung zeigen sich klare Erfolge, berichten Ärzte wie Eltern von Mila. Anfälle wurden seltener und kürzer. Statt mittels einer Sonde ernährt zu werden kann das Mädchen wieder pürierte Nahrung selbst essen. Zumindest für Augenblicke wirkt sie wieder wie ihr früheres, lächelndes und lachendes Selbst, insbesondere nach Einnahme einer Dosis Milasen. Trotz dieser Fortschritte ist es zu früh, eine Prognose für die weitere Entwicklung abzugeben.
„Die fünfte industrielle Revolution“
Milasen, die erste speziell für ein Kind und seine Krankheit entwickelte experimentelle Behandlung, ist das derzeit sichtbarste Beispiel der Entwicklung personalisierter Medizin. „Die Industrialisierung geht von Digitalisierung zu Personalisierung“, beschrieb vor kurzeme bei der Digitalkonferenz DLD Tel Aviv der Leiter der Isreal Innovation Authority, Aharon Aharon. „Noch reden wir von Industrie 4.0, die fünfte industrielle Revolution wird personalisierte Medizin sein“: Medikamente, die für eine konkrete Person entwickelt werden, Kosmetika die spezielle für individuelle Anforderungen zusammengestellt werden, Nike Fit, das den Schuh entsprechend seiner Trägerin und Träger fertigt zuPreis eines Massenprodukts.
Nicht nur Fortschritte bei Gentechnik und Biotechnik, auch die Digitalisierung wird dabei eine zentrale Rolle spielen. „Being Digital ist für die meisten Dinge der physischen Welt eingetreten“, sagt Barak Berkowitz, Digitalisierungsstratege am MIT Media Lab, dessen Gründer Nicholas Negroponte vor zwei Dekaden „Being Digital“ als Leitmotiv postulierte. „Jetzt wird die Digitalisierung auf Medizin und den Gesundheitsbereich überschwappen.“
Von einer Entwicklung, die das Leben von Asthma-Patienten leichter machen kann, berichtete bei der DLD Shez Partovi, der für die Entwicklung von Healthservices bei Amazon Web Services (aws) zuständig ist. Dabei wird die Anwendung eines Asthma-Inhalator mit Hilfe von IoT überwacht: jedes Mal, wenn ein Patient den Knopf auf seinem Inhalator drückt wird das Signal an die Cloud übertragen.
Die Daten einer Vielzahl von Patienten werden zusammengeführt und dank „künstlicher Intelligenz“ (richtiger: Machine Learning) mit anderen Informationen verbunden wie GPS zur Standortbestimmung, Feinstaub-Belastungen am jeweiligen Ort, Temperatur und weitere Faktoren, die eine Voraussage über ein erhöhtes Risiko für Asthma-Anfälle ermöglichen. Für Patienten werden daraus persönliche Vorhersagen erstellt: „Vielleicht sollten Sie heute nicht ins Fitness-Center gehen, da erhöhte Belastungsfaktoren zu erwarten sind“, bringt Partovi ein plakatives Beispiel für den Nutzen.
Augmentiertes Entscheidungssystem

Gesundheitseinrichtungen, die an das System angeschlossen sind, können so rascher reagieren und allenfalls Personal aufstocken, wenn es zu einer erhöhten Rate an Anfällen kommt, die Interventionen nötig macht. „Unsere Vision für medizinische Systeme ist ein augmentiertes Entscheidungssystem zur Unterstützung des medizinischen Personals“, sagt Partovi.
„Niemand kann über das gesamte medizinische Wissen verfügen, dass es in den einzelnen Disziplinen und Erkrankungen gibt“, sekundiert Jeroen Tas, Chefstratege von Philips. „Es ist unmöglich, dass irgendein Arzt oder eine Ärztin die Informationen, die es beispielsweise in der Krebsbehandlung und Krebsforschung gibt, ohne Machine Learning in einem Einzelfall anwenden kann. Umso mehr gilt das für ganze Bevölkerungsgruppen. 90 Prozent aller Krebserkrankungen werden in Einrichtungen diagnostiziert, die keine Spezialisten für Krebserkennung und Behandlung sind. Wir können künftig nicht auch künstliche Intelligenz, Roboter oder augmentierte Technologien verzichten.“
Auf diese „fünfte industrielle Revolution“ ist jedoch das Gesundheitssystem in keiner Weise vorbereitet, warnt Jack Kreindler, medizinischer Leiter des Londoner Centre for Health and Human Performance (CHHP) vor überzogenen Erwartungen. „Voraussagen machen mein Leben als Arzt viel schwerer. Denn die Zahl der Menschen, die aufgrund einer Voraussage zur Behandlung ins Spital kommen, wird sich damit erhöhen. Aber die jetzige Regulierung verbietet mir, Medikamente zur Prävention, anstatt zur Behandlung zu verabreichen“, sagt Kreindler.
Kosten der Personalisierung
„Personalisierung der Medizin bedeutet auch Personalisierung der Kosten. Krebs ist nicht eine einzige Krankheit, außer er wird sehr früh erkannt, sondern eine komplexe Erkrankung, die aus hunderten von Interaktionen besteht. Wenn wir für jeden eine spezielle Behandlung entwickeln, braucht das die zehnfache Zeit bei den behandelnden Ärztinnen und Ärzten. Und letztlich braucht die Regulierungsbehörde jemand, dem sie die Schuld geben können, wenn es nicht klappt“, sieht Kreindler eine Vielzahl von Hindernissen auf dem Weg zur personalisierten Medizin.
Wie aufwändig dies ist zeigt das Beispiel von Mila. Auch wenn die Ärzte die Kosten der Entwicklung von „Milasen“ nicht öffentlich beziffern, dürfte eine Millionenzahl nicht falsch sein. Finanziert wurde dies aus Mitteln des Boston Children’s Hospital, Forschungsgeldern, private Stiftungen und privates Fundraising von Milas Familie. Für geschätzt weltweit 1,4 Millionen Menschen mit seltenen, degenerativen neurologischen Erkrankungen ist dieser Weg wohl noch lange versperrt.
Flaschenhals Medikamententests
Für Kreindler ist darum eine der großen Herausforderungen reif für Digitalisierung „die Revolutionierung von Medikamententests. Das ist der größte Flaschenhals bei der Entwicklung neuer Medikamente, vor allem auch für personalisierte Arzneien. Sogar wenn man das beste Medikament findet dauert es wenigstens zehn Jahre, bevor es zu Trials kommt. Gegen Alzheimer wurden 156 Medikamententests durchgeführt, die 700 Milliarden Dollar kosteten. Herausgekommen sind vier Medikamente, die nicht besonders wirksam sind. Jetzt gehören alle diese immensen Daten den jeweiligen Eigentümern und werden nicht für weitere Forschungen geteilt“, da die Daten geschützt sind.
„Wenn es um Leben oder Tod geht sind Menschen gerne bereit ihre Daten zu teilen, aber nicht bei Erkrankungen wie Diabetes“, beschreibt Kreindler Erfahrungen seines Instituts, „wenn sie anonymisiert sind, gehen die Zustimmungsraten zum Beispiel bei Organspenden auf 80 Prozent. Vor 20 Jahren haben Menschen gesagt, dass sie ihre Bankgeschäfte nicht über Internet erledigen wollen, jetzt machen das fast alle. Die Consumer werden diese Entwicklung auch im Gesundheitsbereich antreiben.“
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