„En cada tango se muere un argentino“: In jedem Tango stirbt ein Argentinier, ist ein Scherz, der in Uruguay gerne über die Nachbarn auf der anderen Seite des Rio de la Plata in Buenos Aires gemacht wird. An diesen liebevollen Spott muss man unwillkürlich denken, während an einem Mittwochabend das Tango-Orchester El Afronte in der Bar La Maldita zu seiner dramatischen Höchstform aufläuft. Etwa hundert Menschen lauschen den Rhythmen auf der in Diskolicht und Kunstnebel getauchten Bühne in dem etwas heruntergekommenen Etablissement in San Telmo, dem Ausgehviertel von Buenos Aires.
Zuvor haben auf dem Dancefloor Tango-Aficionados unter Anleitung zweier Tanzlehrer die Tanzschritte geübt. Nach der Orchestereinlage knistert es beim Showtanz zweier professioneller Tangopaare, den Stars des Abends. Danach ist es Zeit für das Publikum, sich der Leidenschaft des Tanzes hinzugeben, der von Buenos Aires aus um die Welt ging. Die Musik dazu legt Xellisimo auf, jeden Mittwoch, wenn Milonga in La Maldita angesagt ist.
Milonga, erklärt Xellisimo, mit bürgerlichem Namen Christian Xell und aus Österreich, ist “salopp übersetzt eine Tango-Disco, eine schnelle, eher fröhliche Version des Tango Argentino“. Auch wenn ihn das Orchester anklingen ließ, kommt der langsame, melancholische Tango hier selten vor: Es darf beim Tanzen auch gelächelt werden. „Es gibt wohl an die 50 Milongas an jedem Abend in Buenos Aires“, schätzt Xell. Der Website Hoy-Milonga.com ermöglicht es die Angebote zu finden, je später die Beginnzeit „desto mehr Hardcore ist die Milonga“, sagt Xell.

„Früher oder später landet jeder Liebhaber dieser Musik im Tango-Mekka“, erzählt er. 2010 kam Xell nach Buenos Aires, um Schallplatten zu kaufen, seither lebt er die Hälfte des Jahres hier. Weil die Qualität der in den Milongas gespielten Musik „erbärmlich war“ gründete der Wagnerianer das Startup tangotunes.com, das Schellacks in großer Qualität digitalisiert.
Auch Reisende, die nicht der Milonga-Szene wegen nach Buenos Aires kommen, stolpern buchstäblich bei jedem Schritt und Tritt über den Nationaltanz, dessen Grundschritte in Gehsteigen eingelassen sind. Vor dem ältesten Café der Stadt, der Bar Plaza Dorado in San Telmo, ebenso wie im bunten La Boca an der Mündung des Rio de la Plata, Heimat des Spitzen-Fußballclubs Boca Juniors, unterhalten Profitänzer den Touristenstrom und vermitteln Wagemutigen ein Gefühl des Wiegeschritts.
Seine Farbenpracht verdankt das Viertel dem Maler Benito Martin, der zum Malen stets zum Hafen kam. Eines Tages begann er, mit bunten Anstrichen das ärmliche Viertel in eine künstlerische Boheme zu verwandeln. Mit Erfolg, wovon Straßenkünstler, Kunsthandwerk und das Martin gewidmete Museum zeugen. Unweit des Museums wird das angeblich beste Choripan der Stadt gemacht: Argentinischer Hotdog mit würziger Wurst und Chimichurri-Salsa.
Zu Recht gilt Buenos Aires als die „europäischste“ der Metropolen Südamerikas. Baustile und Anlage der 15-Millionen-Stadt, mit bodenhohen Fenstern und Balkonen, der Liebe zum Ornament ebenso wie Bauhaus-inspirierter Moderne erinnern an Paris, Barcelona und Mailand. Architektonische Fantasien fanden hier fruchtbaren Niederschlag, wie im Palacio Barolo. Von einem reichen italienischen Migranten erbaut, der nach dem Ersten Weltkrieg an den Untergang der europäischen Kultur glaubte, verewigte er Dantes göttliche Komödie in eklektischer Architektur.
Die Hölle Dantes, voller neogotischer Ornamente, Drachen und Teufel, reicht vom Keller bis in den zweiten Stock, über das Fegefeuer vom 3. bis 13. geht es in die lichten Höhen des Himmels vom 14. bis zum 22. Geschoss, dessen schnörkellose Architektur an Josef Hoffmann erinnert. Krönender Abschluss ist ein Leuchtturm, der über den unendlich weiten Rio de la Plata eine Lichtbrücke zum Zwillingsgebäude Palacio Salvo in Montevideo schlagen sollte. Leider funktionierte der poetische Gedanke nie, aber noch heute erinnert abendlich das Leuchtturmlicht an die hoffnungsvolle Gründerzeit.

Die Liebe der Portenos, der Einheimischen, zum Tango wird nur noch von ihrem Verliebt Sein in den Tod übertroffen. Zu den wunderlichsten Attraktionen Buenos Aires zählt die morbide Nekropolis des Cenenterio de la Recoleta, dem weltberühmten Friedhof im wohlhabenden Viertel Recoleta. In übereinander gestapelten Särgen wohnen hier die Toten in steinernen Häuschen, von ihren Helden, Engeln und Trompeten bewacht. Katzen streunen durch die engen Gassen, manche Totenhäuser sind offenbar aufgegeben und verfallen, andere hingegen mit frischem Blumenschmuck versehen. Dazwischen die Grabstätte der Volksheldin Evita, Frau des autokratischen Präsidenten Juan Peron, ein Pilgerort der Getreuen.Ganz diesseitig ist dagegen die Lust der Argentinier an hervorragendem Essen in unterhaltsamer Gesellschaft.

Eines der am schlechtesten gehüteten Geheimnisse der Stadt: Die besten Steaks finden sich nicht in teuren Restaurants in Palermo oder am Puerto Madero, sondern bei einem Asado de Obra — eine private Grillerei im Familienkreis, die mit Empenados beginnt, kunstvoll gefüllten Teigtaschen, und über Choripan zu vielerlei Arten der besten Fleischstücke führt. Dank der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes und der Suche der Portenos nach privaten Dollar-Einnahmen lässt sich diese Gastfreundschaft glücklicherweise auch buchen (https://www.asadoadventure.com).
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